Interview mit Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger

Südostschweiz vom 7. August 2023

Interview in der Südostschweiz vom 7. August 2023 – Reiner Eichenberger sprach mit Stefan A. Schmid

Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger über Irrwege für die Bündner Wirtschaft, tiefere Steuern und Mitspracherechte
für Zweitwohnungsbesitzer.

Sein Wort hat Gewicht: Reiner Eichenberger, Wirtschaftsprofessor an der Universität Freiburg, gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Ökonomen der Schweiz. Pointierte Aussagen und eigenständige Positionen sind sein Markenzeichen. Am 29. August wird Eichenberger im Rahmen des Wirtschaftsforums Südostschweiz in der Churer Stadthalle auftreten. Im Vorfeld hat die Redaktion mit ihm über den Zustand der Bündner Wirtschaft gesprochen. Der 62-Jährige wohnt mit seiner Familie in Feldmeilen am Zürichsee, und er besitzt eine Ferienwohnung in Pany.

Reiner Eichenberger, wie nehmen Sie den Wirtschaftskanton Graubünden von aussen wahr?
Graubünden als Bergkanton ist bei vielen nicht gerade bekannt für eine grosse Wirtschaftsdynamik und Innovationskraft. Dieser Eindruck täuscht meiner Meinung nach allerdings gewaltig. Die Bündner Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich stark gewachsen, wenn man das Wachstum pro Kopf der Bevölkerung zum Massstab nimmt. Beim
Gesamtwachstum hinkt Graubünden im schweizweiten Vergleich zwar etwas hinterher – allerdings allein, weil die Bevölkerung deutlich weniger zugenommen hat als in anderen Kantonen. Ich meine: zum Glück! Denn das schnelle Bevölkerungswachstum infolge Zuwanderung schadet den Bürgern. Es verknappt und verteuert den Boden, die Infrastruktur, die Umweltgüter und Selbstversorgungsziele – und es führt zu Bau-Dauerstress mit riesigen Kosten. Aber viele Politiker und Verwaltungskader interessiert das nicht. Sie wollen ein möglichst hohes Gesamtwachstum. Die Bevölkerung soll wachsen, weil das höhere Steuereinnahmen und Staatsbudgets bedeutet. Ein Irrweg, der den meisten Bürgern schadet.

Graubünden hat wirtschaftlich also eine gute Entwicklung genommen?
Korrekt. Aber es macht gute Politik nur noch schwieriger. In der Bündner Wirtschaft herrscht seit Jahren praktisch Vollbeschäftigung. Unter solchen Bedingungen basieren die Wachstumsträume der Regierungen und Wirtschaftsverbände in der Regel auf Zuwanderung, was die Wirtschaftsleistung insgesamt zwar erhöht, aber eben pro Kopf nichts bringt ausser hohen Folgekosten. Erfreulicherweise ist Graubünden weniger als andere Kantone auf diese falsche Schiene geraten. Wer Wohlstand und Lebensqualität der bestehenden Bevölkerung steigern will, muss neue Branchen mit höherer Wertschöpfung entwickeln und ansiedeln. Das sind herausfordernde und langwierige Prozesse. Und hier macht Graubünden einen guten Job.

«Aufbruch Südostschweiz» lautet das Motto des diesjährigen Wirtschaftsforums. Wo orten Sie aktuell Chancen und Herausforderungen für die Wirtschaft in der Südostschweiz?Das skizzierte Spannungsfeld gilt auch für Graubünden: Die Politik will Gesamtwachstum, die Bevölkerung in erster Linie Wohlstand und Lebensqualität. Aus Bündner Sicht könnte sich ein Blick zu den wirtschaftlich boomenden Innerschweizer Kantonen lohnen. Die Innerschweiz ist der Wachstumsmotor der Schweiz, der aber auch mit negativen Begleiterscheinungen dieses Booms zu kämpfen hat. Hier kann die Bündner Wirtschaft einiges lernen, das eine oder andere abschauen und gleichzeitig gewisse Sachen besser machen. Klar ist: An der Steuerfrage wird Graubünden nicht vorbeikommen. Diese ist ein Riesenproblem.

Wie meinen Sie das? Muss Graubünden analog zur Innerschweiz zu einem Kanton mit rekordtiefen Steuern werden?
Weshalb nicht? Vor allem sollte Graubünden ein besonders gutes Verhältnis von Steuerbelastung zu Staatsleistungen bieten. Infolge des gesellschaftlichen Wandels wird die Steuerbelastung ein immer grösseres Problem, auch in Graubünden. Dabei zählt nicht die gesamte Steuerlast, sondern die sogenannte Grenzbelastung, also wie viel man von seinen höchsten Einkommensanteilen abgeben muss. Bei sehr vielen ist das ein Drittel und mehr. Hinzu kommen die Beiträge für die Sozialversicherungen, die für die Mehrheit Steuercharakter haben. So hohe Belastungen mindern die Leistungsanreize, und immer mehr Menschen reagieren: Sie arbeiten Teilzeit, lassen sich früher pensionieren. Intelligente Lösungen seitens der Politik sind gefragt.

Wie sehen diese aus?
Es geht nur über Steuersenkungen. Diese braucht es permanent, schon nur um ein Anwachsen der Staatsquote zu verhindern. Denn bei Einkommenswachstum steigen die Steuereinnahmen überproportional an und so auch die Staatsquote. Tiefere Steuern sind für Politiker und Verwaltungskader allerdings wenig attraktiv, weil es sie zwingt, zu sparen und effizienter zu werden. Das bedeutet harte Arbeit, deren Früchte aber erst später geerntet werden können – wenn die heute Verantwortlichen oft schon nicht mehr im Amt sein werden. Gerade in Steuerfragen kann die Innerschweiz für Graubünden eine Inspiration sein: So wurde Obwalden durch eine kluge Steuerstrategie von einem der ärmsten Kantone zu einem Geberkanton im Finanzausgleich. Das könnte auch ein Weg für Graubünden sein.

Sie erwähnen es immer wieder: die Innerschweiz als Vorbild für Graubünden?
Gute Politik fusst auf guten politischen Strukturen und Spielregeln, unter anderem effektive Dezentralisierung. Graubünden ist flächenmässig fast 60 Prozent grösser als die Innerschweiz. Und diese besteht aus sechs unabhängigen Kantonen! Dabei ist Graubünden historisch betrachtet der Inbegriff lokaler Autonomie. So gesehen ist der Kanton heute überzentralisiert. Das ist ein Problem. Die Innerschweiz dagegen lebt vom Wettbewerb und Inspiration zwischen ihren Regionen – den Kantonen. Das fehlt in Graubünden.

Was heisst das konkret?
Es braucht nicht nur Steuersenkungen im ganzen Kanton, sondern vor allem in den Gemeinden, welche besonders gute Chancen haben, gute Steuerzahler von auswärts anzuziehen. Dafür muss man ihren Spielraum erhöhen, attraktiver zu werden und gezielt die Steuerbelastung zu senken. Schauen Sie: So viele Unterländer besitzen ein Feriendomizil in Graubünden und verbringen viel Zeit hier. Aber nur ganz wenige von ihnen haben ihren Erstwohnsitz im Kanton und bezahlen hier Steuern. Das ist doch jammerschade. Um das zu ändern, braucht es mehr als Charme und nett zu sein, sondern dafür benötigt Graubünden auch gute steuerliche Argumente. Diese Entwicklung wird sich zudem in Zukunft noch verstärken: Die Leute sind flexibler, werden mobiler, können vermehrt im Homeoffice aus ihrem Feriendomizil und hoffentlich bald Hauptwohnsitz arbeiten.

Geht es einzig um Steuern?
Nein. Man sollte die Zweitwohnungsbesitzer aus Zürich oder Aargau nicht nur als potenzielle Steuerkühe betrachten, die gemolken werden können. Vielmehr sollte man sie einbeziehen
und ihnen auch die Möglichkeit geben, sich vermehrt in der Gemeinde zu engagieren. Selbst ohne festen Wohnsitz könnte man Zweitwohnungsbesitzern – auch jenen aus dem Ausland – politisches Mitspracherecht einräumen: Man sollte ihnen einfach das Initiativ- und Referendumsrecht geben. So könnten sie mitreden, ohne mitzuentscheiden. Das würde mit Sicherheit weltweit Schlagzeilen machen: «Ausländer haben in Graubünden mehr zu sagen als in ihren Heimatländern». Das wäre beste Werbung für den Kanton Graubünden. Eine viel bessere jedenfalls als Olympische Winterspiele (lacht).


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